Des Jammers goldene Kulisse

Mit einem Pomp ohnegleichen zelebriert Russland am 27. Mai den 300. Geburtstag von St. Petersburg. Doch die Wunden seiner Geschichte lassensich nicht übertünchen.

Die Stadt braucht die Dunkelheit. In der endlosen Nacht des Winters entfaltet St. Petersburg einen besonderen Zauber, die Realität erscheint als ein Traum. Doch an den lichten Tagen dieses Monats Mai bleibt Bewohnern und Besuchern keine Chance, dem Chaos aus Baustellen, gesperrten Straßen und Sonderpolizei zu entgehen. Der Kalkstaub auf den Schuhen kündigt ein großes Fest an, vor dem die meisten der Petersburger mit Schrecken fliehen wollen: Am 27. Mai feiert die Stadt ihre Gründung vor 300 Jahren.

Vier Tage später wird Russlands Präsident Wladimir Putin in der einst imperialen Hauptstadt die Parade der ausländischen Präsidenten und Regierungschefs abnehmen. Mehr als 100 Flugzeuge aus 45 Ländern werden zu diesem beispiellosen Weltgipfeltreffen zwischen den Staatsführern der G-8-Staaten, der Europäischen Union, ihrer Anwärterländer und der Exsowjetrepubliken erwartet. Alle zehn Minuten landet eines der Flugzeuge laut Luftbrückenplan auf dem Flughafen, der tagelang für den Linienverkehr gesperrt bleibt. Hotelschiffe für die Delegationen sind am Englischen Kai vertäut, um den Mangel an nicht durchgelegenen Gästebetten auszugleichen. Das riesige PR-Ereignis soll mit frisch geweißten Fassaden das Interesse der Investoren weltweit auf St. Petersburg lenken. Zunächst aber legt es die Stadt lahm.

St. Petersburg, das einst als Zentralkulisse eines modernisierten Russischen Reiches aus dem Schlamm der Newa gestemmt wurde, braucht seine Untertanen nicht mal mehr zur Dekoration. Die 300-Jahr-Feier erinnert an die Olympischen Spiele 1980, die in einem verordnet menschenfreien Moskau stattfanden. Die Professoren nehmen ihre Prüfungen an den Universitäten bereits Mitte Mai ab, und das Schuljahr endet früher. Polizisten kündigen Bewohnern der östlichen Wassilij-Insel für die Tage der Feiern Hausarrest mit Ausgehzeiten morgens und abends an. Die Stadtverwaltung legt den Bürgern einen Datscha-Urlaub nahe. Die oppositionserprobten Petersburger schimpfen. Sie wittern eine Show der Regierenden, an der sie nur teilhaben dürfen, wenn ihnen unter den Baugerüsten ein Farbklecks auf die Jacke spritzt.

Nina Alexejewna könnte eher ein Steinbrocken auf den Kopf fallen, wenn sie nach Hause zurückkehrt. Sie wohnt in einem typischen St. Petersburger Backsteinbau, dessen gewaltige Mauern vier schluchtgleiche Innenhöfe umschließen. 1914 wurde das Haus in der Nekrassow-Straße gebaut. Seitdem hat kein Handwerker die Außenwände bearbeitet. Die ornamentalen Figuren an den Fassaden sind abgeplatzt, und manche der Balkons neigen sich zum Bürgersteig hin. Das Schutzgitter über den Köpfen der Passanten, auf dem sich Steinstücke und Mörtelplatten sammeln, erweckt nur bedingt Vertrauen. Es zieht sich zwar rund um das Haus, doch an vielen Stellen ist es verrostet und eingerissen.

Geld und Farbe reichen nicht für die Rückseiten der Gebäude An Ninas Wohnungstür hängen vier Klingelknöpfe – für einige Nachbarn in der Kommunalka, wie die kommunalen Gemeinschaftswohnungen heißen. Im verwinkelten Flur läuft ihr Sohn Andrej Rollschuh. „Hier herrscht jetzt Anarchie“, sagt Nina mit leichtem Triumph. Das Regiment der alten Frauen, die mit keifenden Stimmen den Kindern jede Bewegung verboten, hat sie auf ihren 27 Quadratmetern ausgesessen und überlebt. Jüngere sind in die sechs anderen Räume nachgezogen. Ninas Zimmer liegt links der Wohnungstür, mit Stuck, Wasserflecken und einem Muster aus Rissen an der Decke, aus dem auch manchmal Putz herabrieselt. Über ihre 28 Jahre in der Kommunalka weiß sie viel zu erzählen, sobald der Tee aufgegossen ist. Zum Jubiläum fällt ihr nur ein Satz ein: „Das ist eine Feier für die Beamten und Ausländer, aber nicht für die Menschen der Stadt.“

Wenige hundert Meter von Ninas Haus entfernt, zu beiden Seiten des Newskij-Prospekts, haben in den vergangenen Monaten Hunderte von Arbeiterbrigaden Paläste und Kirchen restauriert. Sie strahlen nun prachtvoller als auf ihren Ansichtskarten. Die Stadt ist schöner geworden entlang der präsidialen VIP-Routen. Doch ihre Fassaden sind von Potemkinscher Raffinesse. Einst wurde St. Petersburg als Metropole der Wissenschaften gepriesen und für seine Revolutionäre und Blockade-Helden gefeiert. Heute zeigt sich beim Blick hinter die Kulissen eine heruntergekommene Gebietshauptstadt. Irgendwo zwischen Weltkulturmetropole und Provinz hat St. Petersburg seine Identität verloren.

Die städtische Infrastruktur ist auf maximal drei Millionen Bewohner eingerichtet. Aber es leben 4,8 Millionen in Europas viertgrößter Stadt. Im letzten Winter fiel in mehreren Vierteln immer wieder der Strom aus. Links und rechts der Prachtstraßen führen dunkle Torbögen zu verfallenen Häusern, mit vorrevolutionären Kanalisationsrohren und Heizkörpern aus den Jahren des Ersten Weltkriegs. Bei der Renovierung des alten Kaufhauses Gostinyj Dwor reichten Geld und Farbe nicht für die Rückseite des Gebäudes. Riesige Reklametafeln verdecken die blinden Fenster leer stehender Ruinen. „Hier wird eine Leiche geschminkt“, spotten Petersburger.

Zwar hat der Umbau der St. Petersburger Industrie, in der einst militärtechnische Kombinate vorherrschten, vom allgemeinen Wirtschaftsaufschwung in Russland profitiert. So holte die Lebensmittelproduktion den Maschinenbau an Bedeutung ein: St. Petersburg ist in Russland mittlerweile führender Hersteller von Bier und Pelmeni, den berühmten Teigtaschen. Doch die Schlüsselinvestitionen solcher Firmen wie Ford, Kraft, Philip Morris und Ikea pickte sich das investorenfreundliche Umland heraus, das sich anders als die Stadt nicht umbenannt hat und immer noch Leningrader Gebiet heißt. Die St. Petersburger Stadtverwaltung gilt dagegen unter Wirtschaftsvertretern als undurchsichtig und besonders korrupt.

Den Niedergang der Stadt verstärkte die Zerrissenheit ihrer Bevölkerung. „Wir haben drei Städte in einer“, fasst der St. Petersburger Soziologe Roman Mogiljewskij seine Untersuchungen zusammen. „Ein Drittel der Bewohner nenne ich Petersburger: Sie beziehen ihr Selbstverständnis aus der fernen Geschichte der Stadt in Weltoffenheit und Aufklärungsstreben, plädieren für ein freiheitliches System, wohnen zumeist in der Innenstadt.“ Das zweite Drittel seien die „Leningrader“, die vor allem im Industriegürtel rund um den Stadtkern lebten. Sie identifizierten sich mit der sozialistischen Epoche und träten konservativ für einen starken Staat ein.

„Die dritte Gruppe wohnt in den Schlafstädten am Rande St. Petersburgs“, erklärt Mogiljewskij. „Das sind Bewohner einer beliebigen Großstadt, oft sozial gut gestellt und gebildet. Sie interessieren sich vor allem für ihre Lebensbedingungen. Zu St. Petersburg haben sie kaum eine Beziehung und fahren wegen des schlechten Nahverkehrs höchstens einmal im Monat ins Zentrum.“ Diese drei Gruppen bewerteten die Geschichte der Stadt und ihre Zukunft vollkommen unterschiedlich. „Das Problem ist, dass die Macht in St. Petersburg seit Jahren nichts unternimmt, um die Klüfte zu überbrücken“, sagt Mogiljewskij. „Es fehlen eine umfassende Idee und eine mutige Reformpolitik, die den Dialog mit den Menschen sucht.“

Nina Alexejewnas Dialog mit der Macht beschränkt sich auf Flüche, wenn sie eine unerklärliche Mieterhöhung für ihre Stadt-Kommunalka bekommt. Der Großteil des Lebens der 53-Jährigen gliedert sich in Ein- und Auszüge, Streitereien und Todesfälle. An den Sommer, als die Michajlowa vom Zimmer gegenüber verschwand, erinnert sich Nina noch genau. „Meistens war sie betrunken und stand morgens auf wie eine Salzgurke“, erzählt sie. Als lange Zeit keiner mehr die Michajlowa auf dem Weg zur gemeinsamen Toilette oder zur Küche gesehen hatte und sich ein seltsamer Geruch auf dem Flur breit machte, brachen Polizisten der Revierwache die Zimmertür auf. „Das hat vielleicht gestunken!“, ruft Nina aus.

Der städtische Leichendienst kam nicht, da er am Freitagabend schon ins Wochenende gegangen war. Die Kommunalka-Bewohner flüchteten sich in ihre Zimmer. Drei Tage lebten sie mit Michajlowas Leichnam. Dann durchliefen sie alle Stationen des Sanitär-, Hygiene- und Gesundheitsamtes, um das verpestete Nachbarzimmer desinfizieren zu lassen. Am Ende mussten sie es selbst bezahlen. Der Eigentümer des Zimmers hat die Möbel bis heute nicht abgeholt. „Im Sommer“, sagt Nina, „zieht dann wieder dieser Geruch durch die Wohnung.“

Die Kommunalka ist eine Errungenschaft der bolschewistischen Revolution und heute der Fluch St. Petersburgs. 900000 Menschen und Millionen von Kakerlaken leben noch immer in den einstigen Bürgerwohnungen, die durch Mauern in kleine Zimmer unterteilt wurden. Jeder fünfte Petersburger ist zu einer Existenz im Gestank von Toilette und vergammeltem Fisch, im Eintopfdunst, zwischen Kernseife und trocknenden fremden Unterhosen verurteilt. Vor allem die Armen und Alten können sich einen Umzug in eine eigene Wohnung nicht leisten. Ein Drittel der überalterten Bevölkerung von St. Petersburg hat Rentenansprüche. Die Kommunalka wird vielen von ihnen zu Asyl und Altersheim.

Auch Nina hat vom Umschwung in Russland nicht profitiert. „In den Supermarkt gehe ich wie in ein Museum“, sagt sie. Der Ehemann ist spurlos verschwunden, und nicht einmal ein landesweiter Haftbefehl hat ihn zur Alimentezahlung für den 12-jährigen Sohn heranziehen können. In Ninas Zimmer stehen dicht gedrängt zwei Betten, eine Couch, ein Kühlschrank, Andrejs Klappfahrrad und eine Schrankwand, in der alte Glückwunschkarten zum Frauentag, Matroschka-Puppen und der Becher mit den Zahnbürsten Lebenserinnerungen mit dem Heute verbinden.

Die gepökelte Nachbarin – Gott habe sie gnädig!
Wenn Nina überlegt, wer mit ihr zusammenwohnt, zählt sie an den Fingern ab und wandert in Gedanken den Flur entlang. Sieben Zimmer sind belegt. Der Kinderschänder von gegenüber sitzt jetzt glücklicherweise ein. Und auch der Dieb, der ihr schon mal die Beute aus dem Kindergarten im zweiten Stock anbot, in dem sie damals arbeitete, hat die Wohnung verlassen. „Hinter der Biegung“ liegt das Zimmer von Walentina, „weiter hinten“ wohnen zwei Russinnen, die auf dem Markt nebenan das Studiengeld ihrer Kinder erschuften, und zur Küche zu lebt ein schweigsamer Moldawier. Über der fleckigen Tapete im Flur verläuft ein Gewirr von elektrischen Kabeln. Staubige Glühbirnen baumeln herab. Manche sind ausgeschaltet, denn sie gehören dem Besitzer des anliegenden Zimmers. Nur er darf sie anknipsen.

Der Kampf um das Eigentum vergiftet häufig den Alltag der Zwangswohngemeinschaft und führt bei manchem zu einem Erfindungsreichtum, der ihm im sonstigen Leben abgeht. „In einer Wohnung hat sich der Mann extra eine Schneiderschere mit kleinen Zähnchen besorgt und damit sein Toilettenpapier abgeschnitten“, erzählt Walentina, die Nachbarin von Nina. „So konnte er immer sehen, ob jemand heimlich von seiner Rolle abgerissen hatte.“ In Ninas Kommunalka bringt jeder seine Papierrolle mit. Einige Nachbarn haben ihre eigene Glühbirne in der Toilette angebracht. Das Kabel führt in ihr Zimmer, wo sie vor dem Gang zum Klo das Licht anknipsen. In anderen Kommunalkas hängen die Toilettenbrillen der Bewohner auf Haken an der Wand.

Wenn Nina die Toilette zeigt, hat sie immer eine lustige Geschichte parat. Einmal ist der hoch angebrachte Wasserkasten abgebrochen und hat sich über einem Besucher ergossen, der gerade auf der Toilette saß. Damals haben die Nachbarn selbst einen neuen Wasserkasten anmontiert. Denn der Sanitärdienst der staatlichen Wohnungsgesellschaft widmet sich statt seiner Arbeit lieber der Erpressung. Nina zeigt das benachbarte Badezimmer. „Vor drei Wochen sind mir beim Putzen des Wasserrohres mehrere Rostlöcher aufgeplatzt“, erzählt sie. „Anderthalb Stunden haben wir mit Eimern das Wasser abgeschöpft, dann war der Hausklempner endlich da.“ Als Erstes reißt er das Waschbecken von der Wand, das seitdem in der Ecke liegt. Dann sägt er das Warmwasserrohr ab, versiegelt es und verlangt 150 Dollar für eine Reparatur. Seitdem haben die Bewohner nur kaltes Wasser. Sie treffen sich vor der offenen Badezimmertür, beraten im Dunst der Toilette, schimpfen auf die Wohnungsgesellschaft, knüllen vor Zorn die geblümte Schürze und gehen hilflos in ihre Zimmer zurück.

Die Küche ist mit Schränkchen und mehreren Herden verbaut. Die Kochplatten sind den Bewohnern zugeordnet. „Ich nehme alles Geschirr ins Zimmer mit, denn sonst bekommt es Beine“, sagt Nina. Alkoholiker in der Wohnung versetzen jeden Topf beim Altmetallhändler gegen eine Wodkaflasche. Oder das erste Fahrrad von Andrej, worauf sich Nina rächte, indem sie der schuldigen Michajlowa in der Küche eine Tomate ins Gesicht klatschte und dann Salz über den Kopf schüttete. Die gepökelte Michajlowa – Gott habe sie gnädig! – gehört zum inneren Repertoire ihrer Kommunalka-Heldengeschichten. Streitereien reichern die Bewohner sonst klassischerweise durch Spucken in den Suppentopf, Durchtrennen des Klingelkabels oder Vergiften der Katze an. „Wenn ich es mir leisten könnte, würde ich gern ausziehen“, sagt Nina trotz aller Erzählfreude an den skurrilen Legenden. „Einmal im Leben in eine eigene Badewanne steigen – das ist ein Traum.“

Vor kurzem hat Nina mit ihrem Sohn zum ersten Mal den St. Petersburger Taurischen Palast besichtigt. „Wir wohnen in einer so schönen Stadt und schauen sie uns viel zu selten an“, sagt sie. 2400 Bauwerke, 15 Prozent der Gebäude St. Petersburgs, hat die Unesco als Denkmäler der Architekturgeschichte eingestuft. Nur in Venedig sind es noch mehr. Der Staat restauriert zum Jubiläum die Prachtbauten, um den Mythos des „Venedigs und Palmyras des Nordens“ wiederzuerwecken. Doch viele der 2000 Wohnhäuser unter Denkmalschutz verfallen.

Als „Hauptstadt der Kultur“ firmiert St. Petersburg seit einigen Jahren in Russland. Doch für die bildenden Künstler der Stadt sichern nur der Moskauer Kunstmarkt und, besser noch, der europäische mit seinen fünfmal höheren Preisen das Leben. Anfang der neunziger Jahre hat St. Petersburg eine kreative Explosion vor allem jener Künstler erlebt, die schon in den letzten Jahren der Sowjetunion zur Parallelkultur der Stadt gehörten. Doch viele sind weggezogen und haben die Kulturszene in einer gemütlichen und aufgeweckten Provinzialität zurückgelassen.

Die Treppenhäuser – hier wurde getrunken, geraucht und gepinkelt Die St. Petersburger Künstler nehmen ihre Abgeschiedenheit mit stolzer Bescheidenheit hin. „Wir haben wenigstens Ruhe hier“, sagt Ljudmila Belowa in ihrem privaten Atelier im Süden der Stadt, in dem sich Gipshände stapeln und Tonbandstreifen wie in einer Ulkperücke als Lampenschirm dienen. Seitdem sie sich als kleines Mädchen in den runden Griff einer Tür in der Eremitage verliebte, wusste sie, dass sie nur in St. Petersburg arbeiten könnte.

Die typischen St. Petersburger Treppenhäuser haben sie sogar zu einer Ausstellung inspiriert. Sie nahm die Geräusche dort auf und spielte sie Besuchern per Kopfhörer ins Ohr. Dazu zeigte sie in kleinen Wandkästchen Fotos der Treppenhäuser. „Das ist eine langsam absterbende Welt“, erklärt Belowa, „denn die Treppenhäuser werden wieder privatisiert. Früher war das ein öffentlicher Raum zwischen Wohnung und Straße, in dem getrunken, geraucht und hingepinkelt wurde. Dieses Übergangsgebiet mit nachrevolutionären Wasserrohren, die Arbeiter über Mosaike und vorbei an Vitragen montierten, spiegelt die Stadtgeschichte wider.“

Belowa stellt im Puschkinskaja 10 nahe dem Moskauer Bahnhof aus. Dieses Kulturzentrum steht, wie sie sagt, für einen in Russland einzigartigen „Sieg der Künstler gegen den Staat“. Am Bahnhof klafft seit Jahren eine fünf Hektar große Baugrube für einen Neubau und ein Kommerzzentrum. Beamte und Geschäftsleute haben dort Hunderte von Millionen Dollar versenkt. Allein im Jubiläumsjahr muss die Stadtkasse 200 Millionen Dollar zur Schuldenrückzahlung an einen Kreditgeber aufbringen. Währenddessen hält sich das Kulturzentrum Puschkinskaja 10 gegenüber dem St. Petersburger Riesenloch mithilfe ausländischer Stiftungen mühsam am Leben. Der düstere, mit Plakaten verklebte Toreingang führt zum Musikklub Fish Fabrique. In seinem kleinen Saal müssen sich die Besucher bei Rockkonzerten unter dem in der Partnerstadt Hamburg erbeuteten Schild „Radfahrer absteigen“ wie Sardinen an die gruftschwarzen Wände pressen.

Gegenüber sitzt ein gelangweilter Wachpolizist in seinem vergitterten Büdchen, als sei er eingesperrt. Im Innenhof des Hinterhauses offenbart sich, wie etabliert das Puschkinskaja 10 mittlerweile ist. Eine Tafel zeigt ordentlich den Lageplan der 40 Ateliers und Proberäume, der Museen und Galerien. 1988 war das gesamte Gebäude mit 16000 Quadratmetern zum Abriss freigegeben. Zu einer Zeit, als Maler und Bildhauer nur über die staatlichen Verbände bei guter Führung Ateliers finden konnten. Als sich der sowjetische Polizeigriff bereits fühlbar lockerte, besetzten mehr als 1000 Künstler und Freunde das Haus unter dem Banner der Anarchie und zapften die Stromleitungen benachbarter Wohnhäuser an. Später gründeten sie einen Verein unter dem Schutznamen Puschkins, dem auch der verstockteste Bürokrat seinen Respekt nicht verweigern konnte. Nach einem langen Abnützungskampf mit den postkommunistischen Behörden gelang es ihnen vor zehn Jahren, sich in einem Pachtvertrag ein Drittel der Räume für 49 Jahre zu sichern.

Den Rest des Komplexes rissen „neue Russen“ an sich. Der Hofparkplatz mit ihren schwarzen Limousinen und Geländewagen ist durch einen mehr als mannshohen Zaun abgetrennt. In der ungleichen Nachbarschaft bleiben Konflikte nicht aus, da bei manchen angetrunkenen Künstlern der Demarkationszaun einen untilgbaren Kletterreflex auslöst. Andere hören als Inspirationsakt um drei Uhr nachts bei offenen Atelierfenstern und voller Lautstärke Schostakowitsch. Der Angst vor Kreativitätsverlust steht die vor Besitzeinbuße gegenüber: Über das Dach der reichen Hausseite windet sich sorgsam verlegter Stacheldraht.

Die Hierarchisierung des Puschkinskaja 10 hat die Haare der einstigen Künstler-Squatter inzwischen ein bisschen ergrauen lassen und ihre Pferdeschwänze ausgedünnt, doch der nonkonformistische Schwung ist noch nicht erlahmt. „St. Petersburg ist nachdenklicher, experimenteller als Moskau“, erzählt Sergej Bussow im zweiten Stock des Hausflügels D in der Cafeteria Bufet bei einem grünen Tee. „Hier wurde die Internet-Kunst entdeckt, als das weltweite Netz in Russland noch unbekannt war. Wir gebären neue Ideen, doch es mangelt an der Umsetzung.“

Bussow hat sich in seiner Galerie der nichttraditionellen Musik verschrieben. Im fensterlosen, rosa gestrichenen Backsteinraum hinter dem Bufet trifft sich die Gemeinde zu elektronisch erzeugter Experimentalmusik. „Zu unseren nichtkommerziellen Festivals kommen die Moskauer neidisch angefahren“, erzählt Bussow. Aber die Vermarktung neuer Kunstformen gelingt den Hauptstädtern besser. „Wir Petersburger lieben die Idee um ihrer selbst willen“, sagt der Musiker. „Die Moskauer verehren ihr Kommerzpotenzial.“ Sogar ein Moskauer Museumsdirektor klagte vor kurzem über die Ausstellungen der St. Petersburger Künstler: „Alles ist so durchdacht und ordentlich und schön. Aber brüllen und verkaufen können sie nicht.“

Zur 300-Jahr-Feier organisiert das Puschkinskaja 10 sein eigenes Programm. „Wir haben von der Stadt viele Versprechen über Zuschüsse gehört, aber nichts ist eingehalten worden“, erzählt einer der Leiter des Kulturzentrums. „Sie kommen immer nur auf uns zu, wenn sie einen Darsteller für die moderne Kunst in St. Petersburg brauchen.“

Denn die hat es schwer, in der Stadt ihre Nischen zu finden. Der kulturelle Konservatismus der Kunstbeamten, die oft noch die sowjetische Akademiebildung hochhalten, nutzt die Klassik als Totschläger für neue Projekte. Nur unter dem früheren Bürgermeister Anatolij Sobtschak entfaltete sich in der ersten Hälfte der neunziger Jahre ein freierer Geist. Der Hochschulprofessor führte Leningrad mit frischen Ideen und manchen Tagträumen zur Umbenennung in den historischen Namen St. Petersburg und in die Transformation des nachsowjetischen Russlands. Sobtschak ermöglichte die Legalisierung des Puschkinskaja 10. Und er gab den heiligen Ort der Peter-und-Paul-Festung für ein ungewöhnliches Denkmal des Künstlers Michail Schemjakin frei, der zu kommunistischen Zeiten in diverse Psychiatrien gezwungen worden war.

Das Denkmal für Peter den Großen widersprach der sowjetischen Ästhetik, stattliche Menschen ohne jede Interpretation in monumentale Posen gießen zu lassen. Zur Eröffnung im Jahr 1991 lief Schemjakin in Soldatenstiefeln und Ledermantel, mit einer Ballonmütze auf dem Kopf, gegen den Takt einer Militärkapelle zum kniehohen Sockel. Darauf sitzt der eherne Peter in seinem Sessel, der so dünn- und hochbeinig wie der Herrscher erscheint. Peter der Große, der gut zwei Meter maß, trägt auf den schmalen Schultern einen halslosen Glatzkopf, der als Schrumpfkopf aus der Kunstkammer des Zaren selbst stammen könnte. Rätselhaft, grausam und hässlich sieht der Stadtgründer aus, wie ein Tyrann.

„Ein Denkmal soll nicht schön, sondern interessant sein“, beschwört eine Reiseführerin ihre russische Touristengruppe. Es sei keine Beleidigung für Peter. „Der Künstler ist natürlich ein großer Verehrer des Zaren. Er wollte nur den angespannten, um Russland besorgten Herrscher zeigen.“ Die Touristen setzen Peter eine Baseball-Mütze auf und lassen sich auf seinen Knien fotografieren. Doch viele Petersburger haben sich bis heute nicht mit dem Denkmal am Gründungsort der Stadt angefreundet.

„Wir werden von Apparatschiks ohne Sinn für Kultur regiert“
Hier wurde 1703 Sanktpiterburch gegründet, mit einer Festung, die als Schutz vor den schwedischen Truppen und als Bollwerk gegen das fortschrittsfeindliche Moskau mit seiner asiatischen Anmutung dienen sollte. Peter der Große ließ mit ehernem Willen und brachialer Macht an unmenschlichem Ort eine Stadt errichten, die weder auf das Leben ihrer Erbauer noch ihrer zukünftigen Bewohner Rücksicht nahm. Er wollte ein Abbild schaffen eines Imperiums, das gerade erst entstand, und einer Zivilisation, die es noch nicht gab (ZEIT Nr. 12/03: Stadt in den Lüften ). Der Triumph des menschlichen Planens und Bauens kostete vermutlich Zehntausende von Zwangsarbeitern das Leben.

Eine Stadt des geometrischen Rasters entstand, in der die Häuserreihen Spalier standen. Die Kulissenhaftigkeit der Ensembles und der Eindruck des Theatralischen überhaupt kumulieren in der Straße des Baumeisters Rossi, die 220 Meter lang und begrenzt ist von zwei spiegelgleichen, 22 Meter hohen Gebäuden. Vor allem ausländische Baumeister trieben diese Stadt des Intellekts voran und errichteten ein europäisches Legoland aus Barock, Klassizismus, Empire und russischem Jugendstil.

Die Doppelseitigkeit wurde zum St. Petersburger Topos: Individuum versus Staat, Vernunft versus Elemente, himmlisches Jerusalem oder Hure Babylon. Im langen Winter mit seinen verschwimmenden Kontrasten wirkt die Stadt wie auf dem Boden eines großen Sees. „Dann ziehen wir uns in unsere Höhlen und absurden Kammern zurück, die St. Petersburg so eigen sind“, erzählt die Künstlerin Belowa. „Ich kenne sogar eine Kommunalka, wo ein Zimmer nur durch das Bad zu erreichen ist.“ Auf Kälte, Melancholie und Todesnähe folgt der kurze Sommer, den die ersten Sonnenanbeter bereits im April begrüßen, nackt an die Mauer der Peter-und-Paul-Festung gelehnt. „Dann spielen alle verrückt“, sagt Belowa, „und versuchen wie im Fieberwahn, keine Minute zu viel an den Schlaf zu verschenken.“
Anfang des 20. Jahrhunderts, nach nur 200 Jahren, gehörte St. Petersburg zu den Weltzentren. Doch die bolschewistische Revolution bereitete dem Aufstieg ein Ende. Der Umzug der Hauptstadt nach Moskau rettete zwar das bauliche Ensemble an der Newa vor den Kahlschlägen der sowjetischen Bombastarchitekten, aber St. Petersburg fiel in die Bedeutungslosigkeit. Revolution und Bürgerkrieg verringerten die Einwohnerzahl binnen weniger Jahre von 2,5 Millionen auf 900000 Menschen. Stalins Verfolgungen und die Blockade der Stadt durch Hitlers Wehrmacht – in jener über zweijährigen Elendszeit von Ende 1941 bis Anfang 1944 starben mehr als eine Million Menschen – dezimierten die ursprüngliche Bevölkerung weiter. Die verbleibende Intelligenzija wurde verfolgt, viele wurden getötet. Ländliche Arbeiter zogen nach sozialistischem Plan für die Industrialisierungsprojekte in die Stadt.

Nina Katerli zählt sich zur dünnen Schicht der St. Petersburger Intelligenzija. Sie wuchs als Mädchen unter Schriftstellern auf, die regelmäßig ihr Elternhaus besuchten. Ihr Vater stand die Zeit der Blockade als Frontjournalist durch. Der Mutter wurde die adelige Herkunft verziehen, da sie lange Zeit in einer Fabrik arbeitete. „Als ich 1944 als Neunjährige aus der Evakuierung nach Leningrad zurückkehrte“, erzählt Katerli, „lieh sich mein Vater ein Auto und fuhr mich zu den schönsten Plätzen der Stadt, zur Admiralität, zum Winterpalast, auf die Newa-Brücken. Damit ich St. Petersburg kennen und lieben lerne.“

Die Schriftstellerin wohnt am Marsfeld nahe dem Ingenieurschloss. Wer im Zentrum lebe, stellt sie fest, fühle sich verantwortlich vor der Stadt: „Hier geht man nicht in Pantoffeln auf die Straße.“ Dann spricht sie leicht indigniert über die Hochhaussiedlungen am Rande der Stadt. „In den Kästen dort wohnen Menschen, denen alles schnuppe ist“, sagt sie. „Unser Gouverneur befindet sich auf ihrem Niveau. Wir werden von Apparatschiks ohne Weitblick und ohne Sinn für Kultur regiert. Es fehlt eine progressive Macht.“

Als der amerikanische Architekt Eric Owen Moss im vergangenen Jahr für seinen dekonstruktivistischen Vorschlag eines Neubaus des weltberühmten Mariinskij-Theaters prämiert wurde, brach in St. Petersburg eine Kontroverse los. Moss’ Anbau an das Theater sieht einen Block aus Granit und Glas vor, an dessen einer Seite ein gläserner Klumpen wie nach einer Explosion ruht. Städtische Kulturwächter protestierten so vehement gegen das „formlose Monster“ und „Mülltütenbündel“, dass ein zweiter Wettbewerb zum 28. Juni eingerichtet wurde. Eine mutige Entscheidung für die zeitgenössische Architektur an dem städtebaulich eher nichtssagenden Ort könnte den Willen der Stadt unterstreichen, die Historie mit der Zukunft zu verbinden. Aber die Garde der St. Petersburger Architekten verknüpft ihren Widerstand mit dem Wunsch, ihren Claim gegen ausländische Baumeister zu verteidigen. „Hier können nur Ortsansässige drankommen“, sagt einer von ihnen offen, „denn Fremden fehlt die moralische Erlaubnis, wenn sie nicht mit Bezug zur Geschichte der Stadt planen.“ Der Philosophieprofessor Grigorij Tultschinskij kritisiert gerade diesen Standpunkt als „unpetersburgisch“. „Anfangs hat Peter der Große russischen Architekten sogar verboten, in St. Petersburg zu bauen“, sagt er. „Moss wäre also in der Tradition der Stadt genau die richtige Wahl. Ohne Moderne hört St. Petersburg auf zu leben. Die Stadt wird zum Museum und dann zum Friedhof.“

Das grandiose Architekturerbe erweist sich als Last, wenn es den Bewohnern zwischen Anmut und Schönheit keinen Raum zum Atmen lässt. Gegen das leblose Bild der Stadt ergreift in einem Zeichentrickspot die Kultfigur Masjanja das Mikrofon, nachdem sie sich in einen Touristenbus geschlichen hat. „Verehrte Gäste der Stadt“, verkündet sie im Singsang der Intourist-Reiseführe-rinnen, „Sie werden die wundervollen Prospekte voller Alkoholiker und Bettler entlangfahren und die unschätzbaren Museumsausstellungen besuchen, die von Omas für drei Euro im Monat bewacht werden.“ Masjanjas St.-Petersburg-Eloge habe der Stadtverwaltung überhaupt nicht gefallen, erzählt ihr Schöpfer, Oleg Kuwajew. „Danach begann eine von oben gesteuerte Pressekampagne gegen mich.“

Doch Masjanja, das freche Stadtmädchen mit den schmutzigen Reden, ist zur landesweit beliebten Petersburgerin geworden. „Sie hat die hiesige Psychologie“, erklärt Kuwajew, „mit einem starken Zynismus, der nicht zu destruktiv ist, und einem Optimismus gerade in schwierigsten Situationen. In Moskau ist sie undenkbar.“ Dort herrscht Pragmatismus vor. Moskau gibt sich schneller per du, ist rational und geschäftstüchtig. Den Reichtum seiner Bewohner demonstrieren schon der gestylte Hauseingang und der prestigeträchtige Bodyguard. „Moskau ist wie Las Vegas voller Sushi-Bars. St. Petersburg dagegen erscheint mir als europäische Stadt des Geistes, wo das Nachdenken im Kaffeehaus manchmal in Trägheit und Snobismus übergeht“, sagt Kuwajew, und sein rundes Gesicht verzieht sich zu einem masjanjagleichen Lachen. „Hier findet man um sechs Uhr abends kaum mehr einen arbeitenden Notar. In Moskau kann man um Mitternacht Krokodile kaufen.“
Wer Karriere machen will, muss nach Moskau gehen – wie Putin Der Zweikampf zwischen St. Petersburg und Moskau ist so alt wie die Stadt an der Newa. Russlands Hauptstadt, deren Maßlosigkeit sowohl Größe als auch Kitschsucht umfasst, hat sich ein zehnmal höheres Peter-Denkmal hingestellt. Sogar in negativen Ehrentiteln herrscht ein Wettbewerb der beiden Städte: Nach einigen aufsehenerregenden Politikermorden gilt wieder Moskau als Russlands „Kriminalhauptstadt“. Die Petersburger glauben sowieso, dass ihnen dieses Klischee übel wollende Moskauer Ende der neunziger Jahre anhefteten.

Beide Städte haben allerdings ihre historischen Rollen getauscht. Vormals galt Moskau gegenüber dem strengen St. Petersburg als lebensfrohes Marktweib, gastfreundlich und ein wenig faul. Heute hat die russische Hauptstadt ihre Selbstbezogenheit abgelegt und dynamisch die Tür nach Europa aufgestoßen. Wer Karriere in der Politik oder der Wirtschaft machen möchte, muss St. Petersburg gen Moskau verlassen – wie Wladimir Putin.

Mit dem „ihrigen“ Präsidenten verbinden viele Petersburger große Hoffnungen. Putin ficht in einem Clan-Kampf gegen Wladimir Jakowlew, den nun Gouverneur genannten Bürgermeister St. Petersburgs. Seit sieben Jahren verwaltet Jakowlew den Stillstand in der Stadt. Weder den Bau eines Hochwasserschutzdamms noch einer Stadtautobahn oder des Ersatztunnels für eine abgesoffene U-Bahn-Linie konnte er entscheidend vorantreiben.

Jakowlew hat sich 1995 gegen Bürgermeister Sobtschak und dessen Wahlkampfmanager Putin gestellt und die Wahl gewonnen. Nun nimmt der Kremlchef Rache und lässt Jakowlew von seinem Bevollmächtigten und den Revisoren des Rechnungshofes demontieren. Die Buchprüfer suchen in der Stadtverwaltung nach Korruption und Misswirtschaft. Sie fanden heraus, dass Gelder des Straßenbaufonds in Finanzgeschäfte flossen, die undurchschaubaren Firmen 30 Millionen Dollar einbrachten. Zur Vorbereitung der 300-Jahr-Feier hätten im Alexandrowskij-Park Baufirmen bei minus 20 Grad im Winter neue Gehwegplatten verlegt, wofür sie die Erde mit Brennern auftauten. Die Arbeit an den schadhaften Wegen sei noch immer nicht abgeschlossen. „Vor kurzem hat Jakowlew ein Denkmal für Alexander Menschikow, den ersten Gouverneur der Stadt, eingeweiht“, erklärt der oberste Rechnungsprüfer, Dmitrij Burenin, in St. Petersburg. „Dieser Menschikow war vor allem berühmt dafür, dass er seine Hand gern in den Zarenschatz steckte. Wenn das kein treffendes Zeichen ist?“

Der Machtkampf schadet der Jubiläumsfreude und lähmt St. Petersburg. Doch bei den Wahlen zum Gouverneur, vermutlich im Dezember, könnte erstmals ein Kandidat Moskaus das Rennen machen. Gute Chancen hätte die Bevollmächtigte Putins in Nordwestrussland, Walentina Matwijenko. Denn die Petersburger, die sonst traditionell gegen Moskau stimmen, schätzen mit positiven Umfragewerten von über 70 Prozent ihren Präsidenten. Er verkörpert die Zukunftschance der Stadt, nach dem Jubiläum nicht in Vergessenheit zu fallen.

Dank Putins Unterstützung und föderaler Gelder könnte St. Petersburg mit Hotelbauten der Mittelklasse den vernachlässigten Tourismus fördern und die Stadtsanierung vorantreiben. Über eine Verlagerung der drei obersten russischen Gerichte nach St. Petersburg wird derzeit im Kreml entschieden. Sogar Luftschlossprojekte wie die Hafenverlagerung ins Tiefwasser beim südwestlich gelegenen Städtchen Lomonossow könnten konkrete Form annehmen. St. Petersburgs Zukunft hängt davon ab, ob Moskau sich in einer Peter dem Großen würdigen Entscheidung grundsätzlich nach Westen orientiert.

Doch schon jetzt zeigt sich, wie zwiespältig Moskaus Dominanz ausfällt. Mittels einer Regierungsanordnung vom 17. Dezember 2002 betreibt die Präsidialverwaltung den Auszug eines der drei Hauptarchive Russlands. Das Staatliche Historische Archiv soll nach 168 Jahren seine Gebäude von Senat und Synode gegenüber dem Denkmal des Ehernen Reiters am Englischen Kai verlassen. Nicht einmal ein zeitweiliges neues Domizil für die sechseinhalb Millionen Dokumente ist bisher gefunden, da schwirren schon Gerüchte über den Bau eines Fünf-Sterne-Hotels in den ehrwürdigen Mauern durch die Stadt. Bisher war das Archiv Moskau nicht viel wert: Im letzten Jahr musste der Lesesaal für anderthalb Monate geschlossen werden, da sogar der karge Lohn für die Hilfskräfte fehlte. Doch einmal erwiesen sich die Archivare, die gesprungene Fensterscheiben mit Klebeband reparieren, als nützlich: Die historischen Pläne zur Renovierung von Putins neuem St. Petersburger Renommiersitz, dem Konstantin-Palast, fanden sich im Staatlichen Historischen Archiv.

Für Politik interessiert sich Pjotr Kosyrjew kaum. Das ist zu uncool. Seinen Freiheitsrausch bekam er nicht während der Demonstrationen gegen den Putsch der alten Kader im August 1991, sondern beim Trampen durch die Welt. Auf seiner Visitenkarte steht: „Berühmter Fußgänger“. In ungewöhnlich flottem Schritt erobert der gelernte Videotechniker die Stadt als Fremdenführer für Backpacker-Touristen. Er liest für sie die geheimen Zeichen auf dem Mauerwerk und in den Asphaltrillen. Sogar Touren über die St. Petersburger Dächer bot er an, bis nach dem 11. September 2001 die Dachluken im Anti-Terror-Kampf abgesperrt wurden.
Vor sieben Jahren hat er als Einmannfirma begonnen, heute beschäftigt er fünf Mitarbeiter. Es ist ein typisch St. Petersburger Kleinbusiness: eine originelle Idee, aus Spaß umgesetzt und wenig rentabel. Der 30-Jährige läuft über den Schlossplatz in Richtung Wassilij-Insel. Eine Arbeiterbrigade kratzt die Fugen zwischen den Granitplatten zum Jubiläum sauber. „Das ist natürlich lächerlich“, sagt er, „wie in Alice im Wunderland, wo die Rosen in der Wunschfarbe der Königin gestrichen werden.“ Vor der restaurierten Börse im Herzen der Stadt, in der Parkanlage an den Rostral-Säulen, stehen drei grüne Plastiktoilettenhäuschen. An einem baumelt die Toilettenpapierrolle, das Ende flattert im Wind. „Hier ändert sich nie etwas“, sagt Kosyrjew amüsiert.

In der Kirche der Heiligen Katharina besucht er seine Freundin Katja. In dem orthodoxen Gotteshaus hatten die Kommunisten ein Chemielabor betrieben. Seit vier Jahren hat sich Katjas Vater mit seiner Töpferwerkstatt zwischen Holzgerümpel und Schutthaufen eingemietet. Im früheren Altarraum lagern die bemalten Tonschüsseln und Becher. Auch ein paar Hausspringbrunnen stehen da für die Schlafzimmer neureicher Russen, die es chic finden, nachts nicht unbedingt zur Toilette rennen zu müssen. Der große Brennofen dominiert den Eingang, ein zweiter steht in einem Geheimraum hinter der Schranktür, damit die Feuerpolizei nicht zu viel sieht. Doch Katja sucht seit kurzem nach neuen Räumen für die Werkstatt. Der tief gläubige Priester der Kirchenruine hat nämlich ein Auge auf die lukrative Töpferei geworfen.

Die 25-jährige Katja ist gelernte Finanzfachfrau und arbeitet wie Kosyrjews St. Petersburger Mitstreiter nicht in ihrem Beruf. Sie schlägt sich in der Töpferstube durch. Der Umbruch in Russland hat ihrer Generation alte Gewissheiten geraubt, doch sie nimmt das Leben fröhlich als Balanceakt zwischen Chancen und Erschöpfung. Im staubigen Licht der Kirchenkuppel flüstert sie: „Ich liebe diese Stadt, aber alle drei Monate muss ich für ein paar Tage raus.“ Katja wohnt in einem der „Brunnen“ genannten Innenhöfe, aus denen der Himmel nur zu sehen ist, wenn der Kopf im Nacken liegt. Sie freut sich auf einen Helsinki-Trip, und Kosyrjew gibt ihr Ratschläge, auf welchen Fähren man ohne Kajüte übernachten kann. Gern würde sie im Ausland arbeiten. Aber wie die meisten Petersburger sagt sie: „für einige Zeit“. Zurückkehren möchte Katja auf jeden Fall.

Spätabends klettert Kosyrjew auf der Wassilij-Insel bei Freunden doch noch einmal aufs Dach. Vom Meer her weht ein frischer Wind. St. Petersburg verschwimmt in der Dämmerung. Die weißen Nächte schweben erst als Ahnung in der Luft. Gegenüber liegt der Balkon eines Künstlers, der Sonnenblumen pflanzt, um den Sommer zu vervielfachen. Vor dem Stadion leuchtet eine Reklametafel in der sonst schummerigen Stadt. Das Baugerüst rund um die Isaak-Kathedrale ist kaum mehr zu erkennen. Das sind die Stunden, in denen die 300-Jahr-Feier manchmal als ein großer Traum erscheint.

© 15. Mai 2003, DIE ZEIT, 21/2003, von Johannes Voswinkel