Sankt Petersburgs mörderisches Erbe

Zum 300. Geburtstag läßt Wladimir Putin die Zarenstadt herausputzen. Doch in den vergammelten Hinterhöfen sieht es noch immer aus wie zu Dostojewskijs Zeiten.

Sankt Petersburg Ende April. Das Straßenpflaster ist allerorts aufgerissen, die Petersburger waten durch Schlammbadewannen, vorbei an eingerüsteten Stadtpalästen und Kirchentürmen. Die einstige Zarenmetropole wird renoviert. Am 30. Mai feiert die Stadt ihren 300. Geburtstag. Dann soll das „Fenster nach Europa“ frischgeputzt sein.

Besucher aber, die zu früh kommen, sehen Petersburg im Urzustand, so wie Dostojewskij die Stadt beschrieben hat. „Das geschäftige Treiben und der Mörtel, die Baugerüste, Ziegelsteine und Staub überall um ihn herum“, so nahm Rodja Raskolnikow in einer klaren Minute seine Umgebung wahr. Dort, wo der verlumpte Student aus „Schuld und Sühne“ seine Untat beging, in den vernachlässigten Straßenzügen hinter dem Heumarkt, dort hat der Sowjetkommunismus ob chronischen Geldmangels wenig Spuren hinterlassen. Die barocken Häuserzeilen sind desolat. Die Innenhöfe in ihren ermatteten Gelbtönen atmen Armut. Auch das Wasser in den Kanälen ist von einem ungesunden Gelb. Ganz wie an einem Juliabend vor 137 Jahren, als Raskolnikow sich aufmachte, die alte Pfandleiherin mit einer Axt zu erschlagen. Die Petersburger weisen den Weg zur fiktiven Wohnung von Dostojewskijs Held, als hätte er tatsächlich hier gelebt.

Der Eingang zum weiss-gelben Mietshaus, wo das verarmte Bürgersöhnchen in einem schrankartigen Mansardenzimmer logierte, ist mit wehrhaften Eisengittern verschlossen. Hier also „trat ein junger Mann aus seiner Kammer, die er in der S-Gasse zur Untermiete bewohnte, auf die Straße hinaus und ging langsam, als wäre er unentschlossen, auf die K-Brücke zu.“ Er zögerte noch. Aus Arroganz und um eines naturgemäß unklar gefaßten Begriffes des wissenschaftlichen oder sozialen Fortschrittes willen schien es ihm erlaubt, eine alte, unsymphatische Wucherin, die „nicht besser ist als eine Laus“, zu töten und mit dem geraubten Geld sein Studium zu finanzieren.

Die Theorie, dem Petersburger Armutssumpf entsprungen, erweist sich als Unsinn. Raskolnikow kann sein Gewissen nicht mit krauser Theorie betäuben. Nach zwei Wochen wird er von seinen Schuldgefühlen überwältigt. „Schuld und Sühne“ wurde 1996 in einer neuen deutschen Übersetzung in „Verbrechen und Strafe“ umbenannt und damit von jeder religiösen Konnotation befreit. Der neue Titel ist eine direkte Übertragung des russischen Originals. „Prestuplenie i nakazanie“ ist für Petersburger gewissermassen eine Art ungeistliche Bibel.

So auch für die eingfleischten Dostojewskij-Fans Peter und Mike. Die jungen Russen haben mit ihrem „Dostojevskij murder pub crawl“ eine ungewöhnliche Stadtführung erfunden . Sie haben die 730 Schritte nachgezählt, die Raskolnikow von seiner Kammer bis zur Wohnung der alten Vettel zu gehen hatte. Der besondere Charme des vierstündigen Stadtspazierganges: So wie einst Raskolnikow unterbrechen die Mordtouristen ihren Weg alle paar Meter in einer der unzähligen Petersburger Kneipen. Gemeinsam mit dem Meuchelmörder rümpfen die Touristen die Nase angesichts „des unerträglichen Gestanks aus den Gaststätten, die so zahlreich sind in diesem Teil der Stadt“.

Auf dem Tisch eine Glaskaraffe mit Wodka und im Magen die entsprechende Grundlage – Hering mit Kartoffel – liest Mike aus verschiedenen Ausgaben von „Schuld und Sühne“ vor, vergleicht, zeigt, was der zaristische Zensor streichen ließ. Eine amerikanische Touristin mit Nerzmütze reisst die Gruppe in die Gegenwart. Sie ruft einen Toast: „Trinken wir auf den Sieg über Saddam Hussein!“. Am Nebentisch erhebt sich würdevoll ein junger Mann: „Ich kann Ihnen gerne die russische Nationalhymne singen, aber sonst bin ich gegen diesen Krieg!“. Später, während seine Frau und seine Tochter ihn am Ärmel aus dem Lokal zerren, läßt er wissen: „Wir Russen haben schon genug Kriege gesehen. Ich will in keinen Krieg mehr ziehen.“

Es ist dunkel geworden in Petersburg. Im Hinterhof, durch den Raskalnikow geschlichen ist, um die Pfandleiherin zu ermorden, sieht man die Hand vor Augen nicht mehr. „Das Stiegenhaus war dunkel und eng, aber er kannte es bereits zur Genüge.“ Der Mörder „schätzte die totale Dunkelheit, in der er selbst die neugierigsten Augen nicht zu fürchten brauchte.“ Schweigend schwankend steigen die Literaturspazierer die Treppen zur Wohnung der bösen, alten Frau hinauf. Der Wodka hat seine Schuldigkeit getan, selig landen die amerikanischen und europäischen Touristen vor der Tür im vierten Stock. Ein Lichtstrahl durchbricht das Dunkel. Eine Schottin hat eigens eine Taschenlampe mitgebracht und leuchtet das enge Stiegenhaus aus. „Raskalnikow hat recht!“ hat jemand an die Wand geschmiert. „Es lebe Tolstoi“ steht daneben. Andere Besucher scheinen den Aufstieg auch nicht ganz nüchtern erlebt zu haben.

Ergriffen stehen die Touristen vor der fiktiven Mordwohnung. Es ist still. Plötzlich klappert ganz real eine Frau in Stöckelschuhen die vielen Treppen herauf. Ohne die Miene zu verziehen geht die Frau im schwarzen Leder an der absurden Versammlung im dunklen Stiegenhaus vorbei. Einen Stock höher ist die Eingangstür aus Stahl. So sehr die Russen in Petersburg ihre fiktiven Mörder lieben, so sehr fürchten sie die realen. Unten tritt Raskolnikow unbemerkt aus dem Hauseingang und verschwindet in den dunklen Straßen von Sankt Petersburg.

© May 2, 2003, Die Presse, Austria, von Tessa Szyszkowitz